«Wir sollten uns auf das Menschsein spezialisieren»

23.11.2020
4/2020

Wie steht es um die Zukunftschancen des Erfolgsmodells Schweiz? Gut, meint der Politiker und Unternehmer Gerhard Andrey. Allerdings könnten wir unsere Trefferquote durchaus noch erhöhen, wenn wir die Chancen systematischer und nicht bloss opportunistisch zu nutzen wüssten.

Herr Andrey, was beweist, dass das Chancenland Schweiz nicht einfach eine leere Formel ist, sondern eine Tatsache?

Gerhard Andrey: Internationale Rankings zeigen immer wieder eindrücklich, dass die Schweiz offensichtlich ihre Chancen zu nutzen weiss. Geht es um Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand oder Lebensqualität, steht die Schweiz regelmässig an der Spitze. Deshalb finde ich unser Land auch so toll.

Aber die Schweiz nutzt leider auch problematische Opportunitäten und steht auf weniger ruhmreichen Listen ebenfalls an der Spitze. Ich denke etwa an die aggressive Steuerpolitik. Damit entziehen wir anderen Ländern mit weniger Einflussmöglichkeiten Steuersubstrat und hemmen damit die dortige gesellschaftliche Entwicklung. Die Chance, im ganzheitlichen Sinn als Leader zu handeln, also sozial, ökologisch und wirtschaftlich, hat die Schweiz noch nicht gepackt.

Was treibt Sie persönlich an, einen Beitrag zur Realisierung des Chancenlandes Schweiz zu leisten?

Mich treibt das Ungewöhnliche, das Alternative an. Es gibt ganz viele Bereiche, in denen wir bestimmte Dinge auch anders tun können, um Fortschritt zu schaffen. Mit dieser Haltung versuche ich meine Ideen als Unternehmer und als Politiker umzusetzen.

Auf welches Ihrer bislang realisierten Projekte sind Sie am stolzesten?

Auf die Firma, die ich mitgründen und lange Zeit mitprägen konnte. Weil wir immer wieder den Pfad des Unbekannten eingeschlagen haben, haben wir ein Unternehmen mit ganz eigenem Charme schaffen können. Dieses zählt mittlerweile 170 Mitarbeitende und ist an fünf Standorten in der Schweiz vertreten. Liip ist ein selbst organisierter Betrieb und bietet ideale Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Mit den realisierten Projekten sind wir seit Beginn sowohl technisch als auch wirtschaftlich höchst erfolgreich. Das alles beruht aber nicht auf einer Einzelleistung. Vielmehr ist es das Verdienst von vielen tollen Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte.

Haben Sie Chancen in Ihrem Leben auch schlecht oder überhaupt nicht genutzt?

Es gibt ja immer eine Vielzahl an Optionen, die man wählen könnte. Doch über verpasste Chancen mache ich mir keine grossen Gedanken. Ich versuche einfach, das Beste aus dem einmal eingeschlagenen Weg zu machen, mich unverkrampft Veränderungen anzupassen und auch mal etwas fallen zu lassen, was nicht zum Fliegen kommt.

Ist der erfolgreiche Gründer und Unternehmer Gerhard Andrey mittlerweile vor allem Berufspolitiker?

Die politische Arbeit ist intensiv. Allein mit den Sessionen im Nationalrat und den Sitzungen der Finanzkommission kommen im Jahr stattliche hundert Tage zusammen. Daneben habe ich sehr viele Anfragen für öffentliche Auftritte. Hinzu kommen freiwillige Engagements. Ich finde alles zusammen unglaublich spannend und bereichernd. Doch viel Platz für die unternehmerische Arbeit bleibt tatsächlich nicht mehr übrig. Wenigstens spielt mir die agile Organisation unserer Firma in die Hände: Ich kann auch mit einem kleinen Pensum sehr gut inhaltlich mitarbeiten.

Gibt es Zielkonflikte zwischen dem Unternehmer Andrey und dem grünen Politiker?

Höchstens zeitliche Zielkonflikte, bei denen aber die Politik den klaren Vorrang hat. Sollten sich geschäftliche Interessenkonflikte ergeben, nehme ich mich aus dem Spiel. Good Governance ist für mich höchstes Gebot.

Als Nährboden, der unserem Land viele wirtschaftliche Chancen eröffnet, gelten der hohe Bildungsstand und die Innovationskraft. Ein Klischee oder eine Tatsache?

In der Schweiz ein eigenes Unternehmen zu gründen, halte ich aus eigener Erfahrung für sehr einfach. Man erhält dabei viel Unterstützung von allen Staatsebenen und von der Privatwirtschaft. Auch der gut funktionierende Rechtsstaat mit seinem ausgewogenen Arbeitsrecht ist ein fruchtbarer Nährboden für Unternehmensgründungen. Als gelernter Schreiner mit Berufsmatura, FH-Ingenieurstudium und Uni-Nachdiplom habe ich übrigens ziemlich viel von unserem Bildungssystem mitbekommen. Und ich bin von diesem Bildungssystem bis heute fasziniert!

Wo haben wir allenfalls Reformbedarf?

Ich wünschte mir, dass in der obligatorischen Schule mehr Gewicht auf das Entfachen des individuellen inneren Feuers gelegt würde. Das Schulsystem ist immer noch sehr normativ getrieben. Genau dieses Normative ist es aber, das am leichtesten digitalisiert werden kann und als menschliche Arbeitstätigkeit verschwinden wird. Wir tun als Gesellschaft gut daran, uns mit unseren individuellen Facetten gezielt auf das zu spezialisieren, was der Roboter und der Algorithmus nie beherrschen werden: Mensch zu sein! Empathisch! Fähig, zum Gemeinwohl beizutragen, kreative Lösungen zu finden und mit Unschärfe und Unsicherheiten umzugehen. Es sind Eigenschaften und Fähigkeiten, die aufgrund der Umwälzungen, wie sie die digitale Transformation auslöst, in Zukunft noch viel wichtiger werden.

Die Schweiz, ein lebhafter und agiler Innovationsstandort – mit welchem Beispiel würden Sie das am liebsten illustrieren?

Mit der SwissCovid App. Der Schweiz ist mit dieser App innert Kürze eine von diversen Akteur/innen in enger Zusammenarbeit kreierte Lösung gelungen. Diese ist quelloffen – im Fachjargon Open Source – und damit vollständig transparent und vertrauenswürdig. Gleichzeitig genügt sie höchsten Datenschutzansprüchen. Und en passant hat das Parlament die notwendige gesetzliche Grundlage dafür geschaffen. Die App hat weltweit zu Recht viel Beachtung gefunden und setzt inzwischen internationale Standards.

Wo sehen Sie auf politischer Ebene eine wegweisende Lösung, mit der das Chancenland Schweiz seine Möglichkeiten in Zukunft konsequent nutzen kann?

Ich stelle fest, dass viele kleine Chancen ab und zu genutzt werden. Das ist sicher unbestritten. Hingegen sehe ich kein Generationenprojekt, das diesen Namen verdienen würde und derzeit mehrheitsfähig wäre. Die Mehrheiten sind zu stark auf Besitzstandswahrung ausgerichtet. 

Welche Chancen lassen wir ungenutzt liegen?

Derzeit versucht die Schweizer Finanzbranche, sich glaubwürdig als Leader im nachhaltigen Banking zu positionieren. Die Politik will dieses Thema alleine der Branche überlassen und ihr eigenes Gewicht nicht in die Waagschale werfen, um dem Vorhaben die nötige Legitimation zu verleihen. Schade um diese verpasste Chance! Ein anderes Beispiel ist die Crypto-Affäre. Da wäre jetzt die Gelegenheit, die Neutralität neu zu definieren und jegliche Hilfestellung beim aktiven Ausspionieren Dritter zu untersagen. Der Bundesrat hat aber keine Lust, die lädierte Neutralität zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Das hat er in der Beantwortung meines Vorstosses im Frühling klargemacht.

Wie interpretieren Sie diese Unlust?

Konsistent sein ist eben anstrengend. Genauso wie das Verzichten auf kurzfristige Gewinne, die langfristig schaden. In der Regel ist es aber der anstrengende Weg, der die besseren Lösungen hervorbringt. Davon würde ich mir mehr wünschen.

Gerhard Andrey

Der 44-jährige Freiburger Gerhard Andrey ist Unternehmer und Politiker. Der verheiratete Vater von zwei Kindern hat 2007 die Webagentur Liip mitgegründet und war von 2012 bis 2017 deren VR-Präsident. Das Unternehmen mit über 170 Beschäftigten gilt als Vorzeigebeispiel eines agilen, nach Grundsätzen von «Holacracy» und «Scrum» organisierten und geführten Unternehmens. Andrey ist gelernter Schreiner mit Berufsmatura und Holzbauingenieur HTL. Er hat an der Universität Freiburg ein Nachdiplomstudium als Informatiker absolviert. Seit einem Jahr sitzt er für die Grünen im Nationalrat. Von 2016 bis zum Frühjahr war er Vizepräsident Grüne Schweiz. 

Jonas Weibel
Fotografie