Wir sind dann mal weg

02.12.2021
4/2021

Altersheimleiter Georg Raguth, der Erfinder der «Besucherbox», sorgte in der Pandemie für besondere Action in seinem Heim: Er drehte mit den von der Aussenwelt isolierten Heimbewohnern und den Mitarbeitenden einen Spielfilm. 

     

Einfach mal abhauen! Dieser Gedanke kam letztes Jahr wohl so einigen. Die Bewohner des Altersheims Risi in Wattwil (SG) setzten ihn um: Sie büxten aus und flogen nach Hawaii.

Natürlich nicht real, sondern in ihrem ganz eigenen Spielfilm. Möglich machte ihn der Altersheimleiter Georg Raguth. Mit dem Projekt gelang es ihm, die Bewohner und die Mitarbeitenden tagelang zu beschäftigen und von der alles lähmenden Pandemie abzulenken. «Katerstimmung kam deswegen niemals auf. Es lief immer etwas», sagt Raguth, der in der ersten einschneidenden Zeit des Coronafrühlings 2020 tägliche Sitzungen mit den Mitarbeitenden und den Bewohnern abhielt.

     

Schubkarren voller Sand in der Cafeteria

Der partizipative Führungsstil, der dem 60-Jährigen sehr wichtig ist, war dabei ein Vorteil: «Wir hatten kein fixfertiges Drehbuch, sondern die Leute konnten auch ihre Ideen einbringen.» Die wichtigste Motivation war für Georg Raguth, den Alltagstrott zu durchbrechen und Abwechslung für die Bewohner zu bringen. Um die Strandszenen in Hawaii möglichst authentisch zu gestalten, schaufelte man schubkarrenweise Sand in die Cafeteria und drapierte darauf Liegestühle.

Der Hintergrund mit dem rauschenden Meer wurde später per Software über den Green Screen eingeblendet. Der grüne Hintergrund für diese Tricktechnik war ebenso wie der Sand ein Kostenpunkt, der aus einem Spezialbudget bezahlt wurde.

Viele Requisiten und weitere Ausrüstungsgegenstände am Filmset waren schon vorhanden: etwa der Laubbläser, mit dem bei einem Fallschirmsprung der Wind im Gesicht imitiert wurde. Diese improvisierten Szenen machen den Charme des Filmes aus. Georg Raguth: «Wir wurden bei jeder Szene anspruchsvoller. Wir merkten, dass vieles möglich ist, wenn man mit Lust und Freude darangeht.»

Was zu Beginn als kurzer Clip angedacht war, entwickelte sich zu einem 20-minütigen Kurzfilm mit Actionszenen und Spezialeffekten, der mit der heimeigenen Spiegelreflexkamera gefilmt wurde. Die Rahmenhandlung bildet eine fingierte Nachrichtensendung, die von der «skandalösen Flucht» der Bewohner an den Flughafen und ihrem Flug nach Hawaii berichtet. Etliche Heimbewohner beteiligten sich an den Dreharbeiten und «viele haben mit grosser Freude zugesehen», erinnert sich Georg Raguth, der selbst grossen Spass hatte am Projekt.

An einem Mittag informierte er die Bewohner, dass am Abend um neun Uhr die Fluchtszene gedreht werde. Wer mitmachen konnte, sollte mit einem Mantel und einem Koffer am Ausgang stehen. «Am Abend standen rund 30 Bewohnerinnen und Bewohner mit Reisegepäck bereit», erinnert sich Raguth.

     

      

Die Begeisterung, die das Projekt bei allen auslöste, habe ihn sehr gefreut. Es sei für die Bewohnerinnen und Bewohner eine Abwechslung gewesen, die Pflegefachfrauen in Hawaiihemden oder die Männer vom Gebäudeunterhalt mit einer Blumengirlande oder mit einem Cocktail in der Hand zu sehen. Auch ganz persönliche Wünsche erfüllte das Projekt: Dank einem Bewohner, der schon immer mal gerne auf einem Surfbrett gestanden hätte, kam man überhaupt erst auf die Idee einer Surfszene.

Der grösste Teil der Bewohner war begeistert, aber nicht alle. Georg Raguth: «Einzelne Bewohner konnten mit dem Film nichts anfangen, aber damit können wir leben. Das Mitmachen war freiwillig.» Durch das Projekt hat der Heimleiter die Erkenntnis gewonnen, dass man Motivation und Engagement nicht diktieren kann. Und dass er in jener tristen Zeit etwas machen konnte, was letztlich gar nichts mehr mit Corona zu tun hatte.

     

Von Hollywood inspiriert: die Besucherbox

Schon früher war Georg Raguth mit unkonventionellen Ideen aufgefallen: etwa mit einer – echten – Ferienreise mit den Bewohnern nach Amsterdam. Oder mit der Erfindung der «Besucherbox» für Altersheime, die immerhin Besuche der Angehörigen auf Distanz ermöglichte. Die Idee entsprang seiner Phantasie am Abend des Lockdowns, als er an Filmszenen mit Besuchern in Gefängnissen dachte, die mit Telefonhörer und durch eine Glasscheibe getrennt mit ihren inhaftierten Verwandten reden. Die Besucherbox wurde schweizweit vielfach kopiert und war ein medialer Hit: Selbst chinesische TV-Stationen berichteten darüber.

Vielleicht liegt Raguths Fähigkeit, jenseits der typischen Grenzen zu denken, an seinem Werdegang: Der ehemalige Pöstler ist auch gelernter Pflegefachmann, leitete elf Jahre einen Rettungsdienst und war im Versorgungsmanagement einer Krankenkasse tätig, bevor er die Heimleiterausbildung in Angriff nahm. Im Altersheim Risi hat er seine Traumstelle gefunden, weil er alten Menschen viel Wertschätzung entgegenbringt und sie «einfach gerne hat». Bei allen Projekten steht für ihn die Zusammenarbeit im Vordergrund: Ohne sein Führungsteam in den Bereichen Pflegedienstleitung, Betriebsunterhalt, Hausdienst, Küche und Verpflegung wäre es nicht gegangen, durch die letzten zwei Jahre der Pandemie mit allen Einschränkungen, Quarantänen und wechselnden Vorschriften zu kommen.

Ja, sie seien nicht nur der Dreharbeiten wegen manchmal am Limit gelaufen, räumt er ein. Aber er könne auf ein tolles Kader zählen, das eine hohe Eigenständigkeit, eine hohe Verantwortung und auch die Kompetenzen dazu habe. Manche Entscheidungen mussten am Tag danach bereits wieder revidiert werden.

Aber das gehörte erst recht dazu, meint Georg Raguth: «Man muss die Führungsleute zu Beteiligten machen, statt etwas aufoktroyieren zu wollen. Führen heisst delegieren können.»