«Ich habe auf Reisen gelernt zu vertrauen»

15.09.2020
3/2020

Seit Jahrzehnten setzt sich André Lüthi für Alternativen zum Massentourismus ein: für Reisen, die Begegnungen mit Menschen und Kulturen zum Ziel haben. Die Corona-Krise trifft sein Unternehmen, die Globetrotter-Group, hart – aber er sieht sie als Chance.

Herr Lüthi, reisen wir nach der Pandemie anders?

Im Moment ist die Welt ausserhalb des Schengenraums rot, abgesehen von Kambodscha und Tansania. Dieses Jahr ist für die Tourismusbranche gelaufen: Wir rechnen mit einem Umsatzeinbruch von 75–80 Prozent. Und für 2021 gehen wir von 30–40 Prozent des Volumens von 2019 aus.

Sie glauben, dass alles, was uns widerfährt, einem Zweck dient...

Das ist vielleicht etwas esoterisch gedacht. Aber ich wünsche mir, dass diese Krise ein Umdenken bewirkt, dass wir bewusster reisen.

Was heisst das?

Statt zehnmal im Jahr für 40 Franken für ein Wochenende nach Riga, Barcelona oder Berlin zu fliegen, eine oder zwei längere Reisen zu planen, sich darauf vorzubereiten, sich auf die Menschen und die Kultur in einem anderen Land einzulassen und mit anderen Ein- und Ansichten nach Hause zu kommen. Wir haben es, ehrlich gesagt, in den letzten Jahren übertrieben mit dem Tourismus.

Sie wollten immer, dass die Touristen ihre Konsumhaltung überdenken – das tun sie derzeit.

Ich habe immer dafür plädiert, das Reisen wieder als etwas Wertvolles zu sehen. Es ist die beste Lebensschule, und je mehr man reist, umso mehr sieht man auch das eigene Land in einem anderen Licht. Bei allen negativen Auswirkungen des Tourismus, ökologischen wie soziokulturellen, sind auch die positiven Seiten zu sehen, die ökonomischen Möglichkeiten ebenso wie die völkerverbindende Wirkung. Corona ist vielleicht eine Chance, dieses Verhältnis neu zu denken – so hart es unsere Branche derzeit trifft.

Vielleicht hilft die Krise, das Reisen wieder als etwas Wertvolles zu sehen.

Es schlagen zwei Herzen in Ihrer Brust: Ihre Vision bekommt eine neue Bedeutung, aber Ihr Geschäft leidet darunter.

Das ist richtig. Wir haben noch vor einem halben Jahr auf Podien heisse Diskussionen über Overtourismus geführt und darüber, wie man ihn mit Kontingenten oder über Preise einschränken kann, egal ob in Luzern, auf dem Titlis oder auf dem Machu Picchu. Jetzt tritt das genaue Gegenteil des vorherigen Zustands ein, und das ist auf eine erschreckende Art faszinierend, ehrlich (lacht).

Weil diese Krise ein derart weltweites Ereignis ist, hoffe ich, dass sich – nicht nur zum Thema Reisen – ein Umdenken breitmacht, bezogen auf Rücksicht, Respekt, Konsum und Neugier.

Globetrotter führt die Angebote «Freiwilligenarbeit», «Aktivreisen» oder «Frau unterwegs». Werden diese Nischen jetzt zu grossen Trends?

Das wäre mega … Aber unser Angebot ist noch grösser, wir haben 14 Firmen in der Gruppe. Wir bieten zum Beispiel «Background Tours»: Reisen mit Erich Gysling, Claude Nicollier oder Reinhold Messner – da lernt man etwas, wenn man unterwegs ist. Diese Angebote erfreuen sich einer grossen Nachfrage. Oder «Bike Adventure Tours»: mit dem Velo – sanft! – Chile entdecken, oder die Mongolei oder Neuseeland, immer unter kundiger Führung. Das sind in der Tat die Nischen, an die ich glaube.

Ist das nicht ein Konflikt? Mit dem Erschliessen von Nischen machen Sie diese zum Mainstream.

Bis zu einem gewissen Grad schon: Ich war vor 42 Jahren in Phuket und habe bei einem Fischer gewohnt, weil es kein Hotel gab. Viele Geheimtipps werden zu Massenphänomenen – das sehen wir ja jetzt gerade in der Schweiz. Aber mit Erich Gysling zu reisen oder mit Thomas Bucheli das Azorenhoch zu studieren, ist kein Geheimtipp. Es heisst, spezifischer zu reisen, bewusster.

Zu welchen Reisen raten Sie anspruchsvollen Kunden jetzt?

Reisetipps für diesen Herbst? Die Reise nach innen: Nutzen Sie die Zeit, sich darauf vorzubereiten, dass man wieder reisen kann (lacht). Ernsthaft, das ist nicht lustig: Jetzt ist die Gelegenheit, sich zu überlegen, wie man in Zukunft reisen möchte, wenn wir gelernt haben, mit dem Virus zu leben. Mit Masken oder anderen neuen Realitäten, die sich auf Begegnungen auswirken.

Wie wollen wir reisen, wenn wir gelernt haben, mit dem Virus zu leben?

Das erwarten wir von Ihrer Branche: dass sie uns mit ihrer Expertise aufzeigt, wie das in Zukunft geht...

Künftig ist das Geld in der Reisebranche vermutlich nicht mehr am Produkt zu verdienen, also an den Bundles, die verkauft werden, sondern an der Beratung, am Wissen: das System der Anwälte.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich in Zukunft immer mehr die reine Beratungsleistung durchsetzt: dass auch Leute ihre Botswanareise online zusammenklicken, sich dann aber vom Botswanaexperten zum Beispiel für einen Stundenpreis von 150 Franken über Impfungen, die besten Nationalpärke, die ideale Route und vieles andere beraten lassen.

Sie sagen, Ihr Erfolg als Manager beruhe auf der Erfahrung als Reisender.

Wobei ich immer schon etwas anders gereist bin. Wer viermal Nordkorea besucht, zu Fuss zum Nordpol wandert oder wochenlang auf einem Fluss in Kanada ausgesetzt ist, lernt seine Grenzen kennen, was bei mir oft durch Fehler passiert ist, die ich gemacht habe. Ich habe meine Schwächen kennengelernt, Toleranz gebraucht und erfahren und – das Wichtigste für mich in der Führung – Vertrauen.

Inwiefern?

Ich habe auf Reisen gelernt, auf die richtigen Leute zu setzen. Das heisst, ihnen zu vertrauen. Das Gleiche gilt im Unternehmen: Ich setze nicht auf jemanden und gehe später hin und sage jeden Tag, was sie/er alles falsch macht. Wenn Sie in Kanada über mehrere Wochen zu zweit mit dem Kanu auf einem abgelegenen, unbekannten Fluss unterwegs sind, braucht es zu 100 Prozent das gegenseitige Vertrauen. Wenn zum Beispiel der Vordermann vor der Stromschnelle schreit: «Rechts halten!», dann muss ich hinten im Kanu blind darauf vertrauen können, dass er die Situation richtig einschätzt.

Ich habe gelernt, auf Leute zu setzen: Das heisst, ihnen zu vertrauen.

Vertrauen kann nicht alles sein.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist: Wenn man das Ziel nicht erreicht, geht die Welt nicht unter. Das habe ich auf Reisen oft erlebt, wenn ich an einem 8000er herumgekraxelt bin.

Wenn Sie das Matterhorn besteigen wollen, nehmen Sie einen Bergführer. Da haben beide das gleiche Ziel: Sie wollen sicher auf den Gipfel kommen. In Unternehmen ist das leider oft nicht so: Führende und Geführte haben häufig nicht das gleiche Ziel.  Da hat derjenige, der führt, seinen Bonus im Auge, den Businessplan und die Rechenschaft vor dem VR und rennt oft blindlings los. Wenn Sie das am Berg machen, wird es schnell gefährlich. Da ist vielleicht eine Zwischensicherung nötig oder sogar ein Umweg.

Man muss den Mut haben, zu sagen: Langsam, wir erreichen das Ziel, aber wir erreichen es als Team, vollzählig.

André Lüthi, VRP Globetrotter-Group

Mit ihren 14 Unternehmen bietet die Globetrotter-Group Reisen und Auslandaufenthalte jenseits des Mainstreams an. Sie sind Firmenpartner der SKO. Der langjährige CEO und heutige VR-Präsident André Lüthi, 60, hat das Unternehmen seit seinem Eintritt 1987 zum grössten unabhängigen Reiseunternehmen der Schweiz gemacht. Die Corona-Krise trifft es derzeit aber hart: Mit 95000 Annullationen und Umbuchungen steckt die Gruppe in der nie da gewesenen Situation eines riesigen Arbeitsaufkommens ohne jeden Umsatz.